Rückblick Fachtag „1001 Vorurteil in der pädagogischen Arbeit mit Jungen* und Mädchen* in der Migrationsgesellschaft“

Am 28. März trafen sich rund 120 (sozial)pädagogische Fachkräfte im Deutschen Hygiene – Museum Dresden, um gemeinsam an der Frage zu arbeiten, wie auf die Herausforderungen der Zuwanderung in unsere Gesellschaft zu reagieren sei. Insbesondere der Umgang mit Muslim*innen erzeugt Verunsicherung und Angst auch und gerade bei Menschen, die professionell mit diesen Adressat*innen umgehen. Dabei noch die „Geschlechterbrille“ aufzusetzen verkompliziert die Sache einerseits, denn nun kommt zum Aspekt der Herkunft eine weitere Unterscheidungskategorie, die verarbeitet und verstanden werden will.  Andererseits gestattet es jedoch eine viel differenziertere Sichtweise und ermöglicht konkretere und vielfältigere Optionen pädagogischen Handelns sowie des „Darüber – Nachdenkens“. Die Beschäftigung mit „fremden“ Werten, Kulturen und Geschlechterzuschreibungen zwingt Fachkräfte zur Auseinandersetzung mit sich selbst und den eigenen diesbezüglichen Erfahrungen: Im Spiegel des „Fremden“ kann ich auch mich selbst und meine Werte besser erkennen. Daraus entspringt (idealerweise) eine Haltung, die dem eigenen Handeln Sicherheit und Festigkeit gibt und die es ermöglicht, die Begegnung mit den „Anderen“ authentischer, aufgeschlossener und weniger normativ zu gestalten.

Der Fachtag war eine Kooperationsveranstaltung der Fachstelle für Jungen- und Männerarbeit in Dresden (Männernetzwerk Dresden e.V.), der Fach- und Koordinierungsstelle für die Arbeit mit Mädchen und jungen Frauen (*sowieso* Frauen für Frauen e.V. & Verbund sozialpädagogischer Projekte e.V.) sowie des Deutschen Hygiene-Museums Dresden.

Zum Einstieg gab Ahmad Mansour einen sehr lebendigen Einblick in seine Berufspraxis, in welcher er sich vor allem der Prävention von Radikalisierung und religiösem Extremismus zugewanderter junger Männer widmet. An mehreren Beispielen illustrierte er den Begriff der  „Ehre“, der für viele männliche Muslime eine zentrale Rolle spielt und starke Identifikationsmöglichkeiten mit einem (sehr eingeschränkten) Bild von Männlichkeit bietet. Der an und für sich positiv besetzte Begriff der Ehre wird zum Stolperstein  - zum einen für die persönliche Entwicklung der jungen Männer aber auch hinsichtlich der Integration in unser Gemeinwesen. Die Dekonstruktion problematischer Männlichkeitsbilder und die Verpflichtung der Zugewanderten auf das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland - inklusive der darin verankerten Werte - sieht Ahmad Mansour als Aufgabe, die auch durch pädagogische Fachkräfte umgesetzt werden muss. Allerdings benannte er hier auch deutliche Begrenzungen – v.a. hinsichtlich der Anschlussfähigkeit biodeutscher Sozialpädagog*innen an muslimische Lebenswelten.

Hier geht es zu einem Beitrag von Ahmad Mansour, der sich mit der Radikalisierung muslimischer junger Männer sowie Anknüpfungspunkten für den (pädagogischen) Umgang mit diesen beschäftigt:

http://www.bpb.de/politik/extremismus/islamismus/193521/salafistische-radikalisierung-und-was-man-dagegen-tun-kann

 

In einem weiteren Impulsvortrag beschäftigte sich Fidan Yiligin mit einer rassismuskritischen Sicht auf die pädagogische Praxis. Es ging ihr darum, die Lebensentwürfe und Lebenswelten der zugewanderten Jungen* und Mädchen* durch die Brille der kritischen Migrationsforschung zu betrachten. Im Vortrag wurden einerseits zentrale Begriffe wie „Rassismus“ oder „Othering“ (Edward Said) ausgeführt, zum anderen wurden wichtige Protagonist*innen der kritischen Migrationsforschung vorgestellt. Des Weiteren gab Fidan Yiligin einen Ãœberblick über die pädagogischen Paradigmen in der Arbeit mit Migrant*innen sowie deren Veränderung im Laufe der Jahre. Insbesondere betonte sie jedoch die Notwendigkeit, das eigene Denken, Wissen und Handeln zu „dekolonisieren“. Das bedeutet, stets im Blick zu behalten, dass die aktuellen gesellschaftlichen Bedingungen in der Welt maßgeblich Folge kolonialer Abhängigkeiten der „Entwicklungs-“ von den Ländern der westlichen Welt sind. Diese Abhängigkeitsverhältnisse haben sich tief in die Art des Denkens, in den Sprachgebrauch, in die Wissensvermittlung, in Erklärungs- und Bewertungsmaßstäbe westlicher Gesellschaften und damit auch in Denk-, Deutungs- und Handlungsmuster pädagogischer Fachkräfte eingeschrieben. Dadurch setzt sich die geografisch längst aufgehobene Kolonisierung der „Entwicklungsländer“ (übrigens ein gutes Beispiel für kolonisierten Sprachgebrauch) in Sprache und Handeln bis heute immer weiter fort  und zementiert damit weiterhin die alten kolonialen Unterordnungs- resp. Abhängigkeitsverhältnisse. Ein Ausweg besteht darin, die eigene Sprache, das eigene Denken und Handeln kritisch zu reflektieren, zu “dekolonisieren“ und damit zu unvoreingenommenerem Wissen und Handeln zu gelangen.

Download Impulsreferat Fidan Yiligin

 

Am Nachmittag wurden im Rahmen von 6 Workshops die Themen der Impulsreferate weiter inhaltlich vertieft, in die Breite getragen, mit Praxisbezügen versehen, methodisch angereichert bzw. die  Selbstreflexion der anwesenden Fachkräfte angeregt. Hier eine kurze Ãœbersicht:

Workshop 1: „Hier kann ich mir selbst bewusst sein“ – Christine Rietzke, Dr. Mirette Bakir, MIO Mädchentreff Leipzig

MiO - Interkultureller Mädchentreff ist ein „Off ener Treff für Kinder und Jugendliche“ mit den Merkmalen der
Geschlechtsspezifi k und 90 % Nutzerinnen* mit Migrationshintergrund. Der größte Teil der Mädchen* kommt aus
muslimisch und arabischsprachig sozialisierten Familien. Aus diesem Grund arbeitet im MiO zudem eine Sprach- und
Kulturmittlerin*. Nach einer Einführung in die praktische Mädchen*arbeit werden Ziele in der Arbeit mit den Mädchen*
ebenso transparent wie deren praktische Umsetzbarkeit – auch in der Zusammenarbeit mit den Eltern. Schwerpunkte
dabei werden erfahrene und gelebte Rollenbilder und Weiblichkeitsvorstellungen im Islam sein, sowie der Umgang mit
der eigenen Sexualität.

 

Workshop 2: „Pädagogik in der Migrationsgesellschaft“ – Peter Streubel, Ausländerrat Dresden e.V.

Migration beeinfl usst die Gesellschaft auf vielfältige Weise. Inwieweit erfordern spezifi sche Lebenslagen und Bedürfnisse
migrierter Mädchen* und Jungen* und deren Familien Veränderungen in der pädagogischen Arbeit?
Müssen bestehende Konzepte und Strukturen verändert werden und wenn ja, wie? Welche Rolle spielen dabei
Selbstverständnis und persönliche Haltung der pädagogischen Fachkraft? Im Workshop sollen auf Grundlage des
migrationspädagogischen Ansatzes Anregungen für eine gute pädagogische Praxis unter den Bedingungen der
Migrationsgesellschaft gegeben und gemeinsam diskutiert werden.

 

Workshop 3: „Umgang mit diskriminierenden Einstellungen und Aussagen in der Jugendarbeit“ – Susanne Feustel, Projekt DIADEM, Kulturbüro Sachsen

Diskriminierende Einstellungen, Neiddebatten und mancherorts blanker Rassismus haben in den letzten Jahren stark
zu genommen. Auch in der Jugendarbeit werden sie zum Problem.Im Workshop werden wir herausarbeiten, wie ein angemessener
Umgang von Fachkräften mit rassistischen, sexistischen und homophoben Positionierungen in der Kinder- und
Jugendhilfe - Arbeit aussehen kann, welche Handlungsstrategien und Reaktionsmöglichkeiten denkbar sind. Dabei
werden wir besprechen, welche Rolle Berufsverständnis und Haltung spielen und wie gesellschaftlicher Auftrag und Grenzen
dessen für Sozialarbeiter*innen / Sozialpädagog*innen aussehen.

 

Workshop 4: „Die Kulturbrille“ absetzen, Karola Jaruczewski - Leipzig, Fidan Yiligin - Bielefeld

In der pädagogischen Arbeit mit zugewanderten Jungen* und Mädchen* scheint „Kultur“ eine zentrale Kategorie zu
sein. Es gibt einen Bedarf nach „kulturellem Wissen“ und gleichzeitig die Tendenz, „Kultur“ als Erklärung für „interkulturelle
Situationen“ heranzuziehen. Im Workshop geht es uns darum, nach den Konsequenzen
einer Fokussierung auf „kulturelle Unterschiede“ zu fragen. Anhand eines Fallbeispiels der Teilnehmenden wollen wir
verschiedene Perspektiven einnehmen, die für eine gelingende Auseinandersetzung relevant sind. Ableitend von den
konkreten Erfahrungen der Teilnehmenden diskutieren wir anschließend Grundlagen pädagogischen Handelns in der
Migrationsgesellschaft.

 

Workshop 5: „Identitäten – Eigene Identitäten sensibilisieren, stärken und als Ressource in der Arbeit nutzen – Abdurrahim Camillo Dottermusch, Archiv der Jugendkulturen Berlin

Im Rahmen des Workshops werden verschiedene Methoden vorgestellt, um pädagogische Fachkräfte für die eigene
Identität zu sensibilisieren und diese als Ressource in der Arbeit mit Extremismen einzusetzen.

 

Workshop 6: „Im Namen der Ehre“ – Asmen Ilhan, Projekt „Heroes“ Berlin

Wir leben in einer Gesellschaft, in der Heranwachsende mit Migrationshintergrund unterschiedlichen Erwartungen genügen
müssen. Sie befi nden sich zwischen den kulturellen und sozialen Traditionen ihrer Eltern auf der einen Seite, und den
Werten und Anforderungen der deutschen Gesellschaft, in der sie leben, auf der anderen Seite.
Patriarchale Strukturen haben in diesem Zusammenhang eine hohe Bedeutung. Sie hindern Jugendliche beiderlei Geschlechts
an der freien Entwicklung ihrer Persönlichkeit und schränken die möglichen Lebensentwürfe ein: Mädchen und Frauen
werden in schwache Positionen gedrängt, aber auch Jungen geraten unter empfi ndlichen Druck. Der Begriff der „Ehre“,
verstanden als kollektive Identität ist hierbei genauer in den Blick zu nehmen. „Ich musste doch meine Ehre verteidigen!“ ist
einer von vielen typischen Sätzen. „Ehre“ ist hier ein universell einsetzbarer Begriff , der den Jugendlichen Anerkennung und
Zugehörigkeit in der Gruppe sichert. Aber warum sprechen vor allem Jugendliche, die aus patriarchalischen, meist muslimischen
Familien kommen, von der Wichtigkeit dieser? Und wieso sind manche Menschen in der Lage ihre Schwester oder
Tochter umzubringen, um anscheinend danach die Ehre der Familie wiederherzustellen?

 

Selbstverständlich wurden im Rahmen des Fachtags keine Wahrheiten im Sinne von „So wird es gemacht“ erarbeitet und verkündet. Vielmehr gab es den Raum, dem Thema „pädagogischen Arbeit mit Jungen* und Mädchen* in der Migrationsgesellschaft“ kontrovers, vielfältig und eben auch widerspruchsvoll zu begegnen. Daraus ergaben sich für die Veranstalter*innen eine Vielzahl von Anknüpfungspunkten, für anschließende Veranstaltungen.

 

An dieser Stelle sei allen am Fachtag beteiligten Menschen und Institutionen sowie allen Teilnehmer*innen herzlich gedankt. 

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